335/2018 Über die Freude des Gebens und die Fähigkeit des Annehmens

Liebe Leserinnen und liebe Leser,

kooperatives Verhalten liegt in den Genen – darüber schrieben wir vor sechs Wochen in Bezug auf die Hohgant-Tour schon einmal.

https://gewaltfrei.blog/2018/03/05/328-2018-kooperatives-verhalten-liegt-in-den-genen/

Mit dieser Überzeugung im Kopf lässt sich kooperatives Verhalten dementsprechend auch in unser aller Leben täglich blicken und wir könnten jede Woche darüber schreiben.

Nachdem wir gerade die letzten Tage auf der Suche nach einem Coachingbrief-Beispiel gedanklich durchforstet haben, blieben wir allerdings doch wieder an einem Beispiel besonderer Hilfsbereitschaft hängen. Und heute betrachten wir einmal die andere Seite: Das Annehmen von Hilfe.

Herzliche Grüße von der Nordseeinsel Spiekeroog
Anja Palitza & Olaf Hartke

Thema: Über die Freude des Gebens und die Fähigkeit des Annehmens

Zitat:Es gibt nichts, das besser ist, nichts, das sich besser anfühlt, nichts, das mehr Freude macht, als unsere Kraft in den Dienst des Lebens zu stellen, um zum Wohlergehen eines anderen Menschen beizutragen“ (Marshall Rosenberg)

Beispiel: Wir reisen zu einem einwöchigen Aufenthalt auf der Nordseeinsel Spiekeroog an, um hier als Dozenten einen Bildungsurlaub zu begleiten. Daher ist unser Auto mit deutlich mehr als unserem persönlichen Reisegepäck beladen – Moderationskoffer, Flipchart, Papierrollen-Köcher und große Alukisten mit Trainingsmaterial haben wir zusätzlich zu unseren Reisetaschen und Aktenkoffern dabei.

Bereits im Fährhafen beim Umladen dieses Berges auf unseren ebenfalls mitgebrachten Gepäckwagen habe ich (Olaf) große Schwierigkeiten, Anja beim Hantieren mit schweren Gegenständen zuzusehen. Mein Schlüsselbeinbruch auf der linken Seite verhindert jedoch leider auch sehr nachdrücklich ein Zupacken und Heben mit dem rechten Arm. Das kann ich nur schwer akzeptieren, obwohl ich den orthopädischen Grund inzwischen verstanden habe. Immer wieder erwischt Anja mich beim Versuch, mit dem freien Arm doch irgendetwas mit anzupacken.

Nachdem der Gepäckwagen beladen und alles mit einem stabilen Spanngurt professionell gesichert ist, bringt Anja das Auto zum etwas entfernten Parkplatz. Im Rahmen des mir möglichen schmerzfreien Krafteinsatzes schiebe ich den rollenden Gepäckberg langsam über das Kopfsteinpflaster in Richtung Fähre. Nach der Hälfte der Strecke bemerke ich, dass sich eines der beiden lenkbaren Räder irgendwie anders verhält, als sein baugleiches Gegenüber; nach wenigen weiteren Metern versagt es ganz seinen Dienst und der Wagen geht einseitig in die Knie. Ein Blick unter die Bodenplatte offenbart, dass sich das Rad vom Tragerahmen gelöst hat.

Ich flitze schnell rüber zur kleinen Hafenwerkstatt, borge mir dort einen Schraubenschlüssel und eine Rohrzange (als Guzzi-Fahrer kriegt man damit alles repariert) und bevor ich den Wagen entladen kann, um ihn für die Reparatur umdrehen zu können, stehen plötzlich – erst einer, dann zwei und schließlich drei – Hafenarbeiter neben mir, entladen den Wagen, nehmen mir das Werkzeug aus der Hand und packen alles auf einen großen Transportanhänger, der ebenfalls noch auf die Fähre soll. Anja ist inzwischen auch zurück, darf aber ebenfalls nur zusehen.

Angekommen auf Spiekeroog wird unser Gepäck vom dortigen Hafenpersonal für uns entladen, unser Wagen repariert und wieder abfahrbereit beladen. Wir können nur zusehen, staunen und sind sehr dankbar für diese freiwillige Hilfe.

Information: Marshall Rosenbergs Grundannahmen zur Gewaltfreien Kommunikation sind stark spirituell verwurzelt und beinhalten als einen wesentlichen Kern die Liebe. Er schreibt dazu:

„Liebe ist nicht einfach irgendetwas, das man fühlt, sondern etwas, das wir ausdrücken, etwas, das wir tun, etwas, das wir haben. Und worin besteht dieses Ausdrücken? Es besteht darin, dass wir auf eine ganz bestimmte Weise etwas von uns selbst schenken.“

Mit dem „etwas von sich selbst zu schenken“ glauben wir, dass Rosenberg meint, dass Menschen, wenn sie in Kontakt mit anderen Menschen sind, diesem Kontakt volle Präsenz und Aufmerksamkeit widmen und mit den Menschen offen und ehrlich teilen, was im gegenwärtigen Moment in ihnen vorgeht, was in ihnen lebendig ist.

Seine Auffassung von Spiritualität formuliert er wie folgt:

„Die spirituelle Grundlage liegt für mich in dem Bemühen, mich mit der Göttlichen Energie in anderen und die anderen mit dem Göttlichen in mir zu verbinden, weil ich glaube, dass wir dann, wenn wir wirklich mit dieser Göttlichkeit in anderen und in uns selbst verbunden sind, nichts lieber tun, als zum gegenseitigen Wohlergehen beizutragen.“

Eine Spiritualität, die Menschen aus einer inneren Freude zum Handeln mobilisiert. Eine Spiritualität, mit der man mit sich und dem anderen in Kontakt ist und damit lebendig bleibt, jeden Augenblick mit dem eigenen und dem Leben anderer verbunden. Er schreibt dazu:

„Tue nichts, was du nicht aus Freude heraus tust. Warte ab, bis es Freude macht. Und es wird Freude machen, genau ab dem Moment, wo unsere volle Aufmerksamkeit auf eine lebensbereichernde Vision ausgerichtet ist. Dann benutze deine Macht und stelle sie in den Dienst der menschlichen und planetaren Bedürfnisse. Benutze deine Macht, um das Leben zu bereichern, indem du auf Bedürfnisse eingehst.“

Wenn wir in dieser Haltung aus Freude heraus geben wollen und zum Leben anderer beitragen möchten, weil es uns selbst Bedürfnisse erfüllt, so bedarf es immer auch eines Gegenübers, der bereit ist, dieses Geben anzunehmen. Ein Gegenüber, das um die innere Freude des Unterstützenden weiß und deshalb nicht versucht, die Unterstützung abzulehnen oder zu schmälern. Oftmals jedoch verhindern es zahlreiche Glaubenssätze, dass der Nehmende dieses „Geben bekommen“ mit einer ähnlichen Freude wie der Gebende annehmen kann.

Marshall Rosenberg hat in Vorträgen und Texten häufig Ruth Bebermeyer zitiert. Ihr Gedicht „Geben und Nehmen“ haben wir ganz unten noch für Sie angefügt.

Zum „Sofort-Üben“: Welche Glaubenssätze könnten ein Annehmen von Unterstützung mit Freude beeinträchtigen?
(Unseren Vorschlag dazu finden Sie am Ende des Coachingbriefes)

Wochenaufgabe: Wie ist es für Sie, die Hilfe anderer Menschen anzunehmen? Bleiben Sie entspannt dabei und können Sie die Unterstützung genießen? Falls noch nicht – so wie ich (Olaf) – üben Sie es doch in dieser Woche einmal. Ich tue es auch.

Aktuelles:

26./27. Mai 2018 Einführungsseminar Gewaltfreie Kommunikation in Jena
01./02. September 2018: Vertiefungskurs Gewaltfreie Kommunikation in Jena

Nähere Informationen unter:
http://www.erfolgsschritte.de/seminare-trainings/termine.php

Unser Vorschlag: Mögliche Glaubenssätze:
„Man darf anderen Menschen nicht zur Last fallen.“
„Man darf nicht so egoistisch sein.“
„Ich darf nicht schwach sein.“
„Nur schwache Menschen brauchen Hilfe.“
„Wer bekommen hat, muss immer für einen Ausgleich sorgen.“
„Die Suppe, die man  sich allein einbrockt, muss man auch alleine auslöffeln.“
„Man darf nicht von anderen abhängig sein.“

 

Geben und Nehmen

 Ich fühle mich beschenkt, wenn Du etwas von mir annimmst
und Du an der Freude teilhast, die in mir ist, sobald ich Dich beschenke.
Und Du weißt, ich gebe nicht in der Absicht, Dich in meine Schuld zu bringen,
sondern weil ich die Zuneigung leben möchte, die ich für Dich empfinde.

Annehmen mit Würde und Anmut ist vielleicht das größte Geschenk.
Unmöglich kann ich die beiden Seiten voneinander trennen:
Wenn Du mich beschenkst, schenke ich Dir mein Annehmen.
Wenn Du etwas von mir annimmst, fühle ich mich beschenkt.

Ruth Bebermeyer

2 Gedanken zu “335/2018 Über die Freude des Gebens und die Fähigkeit des Annehmens

  1. Ananda

    Wie wunderbar! Aus gegebenem Anlass suchte ich heute nach Inspiration zum Glaubenssatz „Die Suppe die man sich selber einbrockt, muss man auch selber wieder auslöffeln“, bzw. suchte ich nach einem lebensfreundlichen öffnenden Anders-Entwurf dazu – und bin in Eurem Artikel fündig geworden. Danke! Ananda, 40, aus Bonn

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