Liebe Leserinnen, liebe Leser,
in dieser Ausgabe geht es um eine Leserfrage zum Thema „Aufschub von Bedürfnissen“. Bei der Vorbereitung fiel uns ein Youtube-Clip zum Marshmallow-Test ein, den wir immer wieder mit Freude anschauen. Das Bemühen des Widerstehens zeigt hier sein Gesicht in den Gesichtern der Kinder (sh. Link unten).
Herzliche Grüße, heute von uns beiden aus Jena
Anja Palitza & Olaf Hartke
Thema: Ist die Fähigkeit zum Aufschub eine Grundlage für ein erfolgreicheres Leben?
Zitat: „Es ist wahr, alle Menschen schieben auf und bereuen den Aufschub. Ich glaube aber, auch der Tätigste findet so viel zu bereuen als der Faulste; denn wer mehr tut, sieht auch mehr und deutlicher, was hätte getan werden können.“(Georg Christoph Lichtenberg)
Beispiel: Eine Leserin unserer Coachingbriefe sendete uns folgende Frage:
„Ich mach’s mir jetzt mal ‚kuschelig‘ und grüble nicht allzu lang nach und frag kurzum, was die GFK zur ‚Frustrationstoleranz‘ als Erziehungsziel bei Kindern sagt. Um selber zu Ende zu denken und zu lesen, ist mein Bildungsminister gerade zu müde und vielleicht habt ihr ja Freude dran, diese Frage in Eure Briefe mit aufzunehmen.“
Information: Mit allem, was Menschen tun, versuchen sie sich Bedürfnisse zu erfüllen. Am liebsten immer sofort dann, wenn das Bedürfnis gerade lebendig geworden ist. Im alltäglichen Leben stehen wir allerdings häufig vor der Entscheidung, ob wir etwas jetzt unmittelbar oder erst später in der Zukunft tun wollen. Denn so manches Mal gilt es, für ein langfristig gesetztes Ziel gut abzuwägen, ob man wirklich bestimmte andere Bedürfnisse die gleichzeitig „hungrig“ sind, zur Erfüllung bringt oder sich deren Erfüllung in diesem Moment nicht lieber versagt.
Wer beispielsweise an der Abendschule sein Abitur nachholt, wird sich so manches Mal die Erfüllung anderer Bedürfnisse, die gern abends oder an Wochenenden lebendig werden, „verkneifen“. Oder für das Fortbildungsziel entsprechend mehr Zeit benötigen.
Dem Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik entnehmen wir, dass der Bedürfnisaufschub (auch Belohnungsaufschub, delay of gratification) eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben in der menschlichen Sozialisation ist und die willentliche Regulation von Emotionen und damit auch die bewusste Steuerung von Handlungen beinhaltet. Damit in Verbindung steht die Fähigkeit, das Ausbleiben der Erfüllung von Wünschen oder von erwartetem Erfolg zu ertragen bzw. Bedürfnisaufschub auszuhalten. Dies wird auch als Frustrationstoleranz bezeichnet.
Das recht bekannte „Marshmallow-Experiment“ greift dieses allzu menschliche Dilemma auf:
Darin bot man vierjährigen Kindern ein Marshmallow an und stellten sie vor die Wahl, entweder die Süßigkeit sofort zu essen oder später eine zweite zusätzlich zu bekommen, wenn sie der Versuchung widerstehen und auf den sofortigen Genuss verzichten. Dieser Belohnungsaufschub gelang einigen Kindern, anderen hingegen nicht.
Eine Erkenntnis aus dem über mehrere Jahre angelegten Experiment: „Im Übrigen hatten Kinder, die im Experiment der Versuchung widerstehen konnten, die Süßigkeit zu essen, Jahre später in der Schule bessere Noten als Kinder, die nicht in der Lage waren, dieser Versuchung zu widerstehen. Kinder mit Selbstbeherrschung schnitten auch bei späteren Konzentrations- und Logiktests besser ab. Außerdem scheinen sie in der Adoleszenz besser zur Stressbewältigung und zum Umgang mit bestimmten sozialen Situationen in der Lage zu sein. Die Studien deuten darauf hin, dass die früh erlernte Fähigkeit, die eigenen Impulse zu kontrollieren, später eine wichtige Rolle für den Schulerfolg und die soziale Kompetenz spielt.“
Mehr dazu lesen kann man unter: http://lexikon.stangl.eu/2147/beduerfnisaufschub/#LVtuGgUdyUVeksll.99
Und um die eigentliche Frage unserer Leserin zu beantworten:
In der Gewaltfreien Kommunikation geht es darum, sich die Bedürfnisse aller Beteiligten im Kommunikationsprozess zu vergegenwärtigen. Und – so Rosenberg – Bedürfnisse wollen in erster Linie gesehen und anerkannt werden und erst in zweiter Linie geht es um die Erfüllung.
Kinder lernen den Bedürfnisaufschub unseres Erachtens u.a., in dem sie schon früh dabei begleitet werden die Erfahrung zu machen, dass es manchmal Sinn ergibt, bestimmte Bedürfnisse „zu parken“ und sie sich erst später oder auch gar nicht zu erfüllen. Eben zugunsten eines anderen Bedürfnisses, das auf einer „höheren Ebene“ oder einer „eher mittel- oder langfristigen Zeitebene“ (die es im GFK-Kontext beide so nicht gibt), das sonst nicht zur Erfüllung käme.
Gleichzeitig halten wir es für wichtig, dass Kinder auch die Erfahrung machen, dass alle ihre Bedürfnisse zählen und das es nicht darum geht, zwischen „jetzt guten“ und „jetzt schlechten“ Bedürfnissen zu unterscheiden. Sondern es geht aus unserer Sicht darum, alle ihre Bedürfnisse anzuerkennen und sie darin zu unterstützen und zu stärken selbst eine Wahl zu treffen, wann sie welche Bedürfnisse zur Erfüllung bringen wollen.
Das ist jedoch nicht ganz allgemein das „Ziel der GFK“, sondern in diesem Fall einer unserer persönlichen Ansprüche bei der Vorbereitung unserer Kinder auf ihr Leben.
Und noch ein Gedanke: Für Säuglinge ist sehr wichtig, dass die meisten Bedürfnisse ziemlich direkt und unmittelbar erfüllt werden. In dem Alter wächst das wichtige Vertrauen heran, dass alle ihre Bedürfnisse zählen und das es Menschen gibt, die bereit sind zu dieser Bedürfniserfüllung beizutragen. Erst wenn dieses Grundvertrauen gelegt ist, kann darauf der nächste Erkenntnis- und Lernschritt aufbauen.
Zum Clip der „Marshmallow-Kinder“: https://youtu.be/Y7kjsb7iyms
Wir finden gerade diese Fragestellung interessant: Mal unabhängig von den Langzeitauswertungen des damaligen Tests – direkt im Anschluss hat man ja auswerten können, wie viele Kinder widerstanden haben und wie viele nicht warten konnten. In einem zweiten Durchgang könnte man feststellen, ob sich diese Quote verändert, wenn man die Kinder während des Wartens nicht allein lässt, sondern sie als Erwachsener empathisch begleitet.
Würden Kinder durch empathische Begleitung in dieser „hochdramatischen“ Wartesituation eher warten können? Und welchen Effekt hätte diese frühe Erfahrung, dass sich Warten lohnen kann, für ihr weiteres Leben?
Aktuelles:
Alle Seminartermine und weitere Informationen finden Sie hier: www.ab-ins-kloster.de
Prof. Dr. Gerald Hüther war im November unser Gastredner beim 3. Erfurter GFK-Tag. Seinen Vortrag zum Thema „Macht miteinander“ hat er dem Verein zur Verfügung gestellt und der Vortrag ist nun im Internet veröffentlicht:
http://www.gfk-erfurt.org/veranstaltungen/impressionen-vom-3-gfk-tag/
Für alle, die nicht mit dabei sein konnten, ist es nun möglich, ein klein wenig einzutauchen in die neurowissenschaftlichen Hintergründe von Macht, Machtentstehung und Potentialentfaltung. Und auch eine Menge Verbindungen zur Gewaltfreien Kommunikation stellt Hüther in seinem Vortag dar.
Herausgeber:
Hartke Unternehmensentwicklung GmbH
Dunlopstraße 9, 33689 Bielefeld
Fon: 05205 / 7290525 und Fax: 05205 / 7290527
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