636/2024 Kindlicher Logik auf der Spur – durch Schweigsamkeit

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

die Tage zwischen den Jahren haben wir genutzt, um eine familiäre Aufgabe zu erledigen; Anjas Vater ist vor einiger Zeit verstorben und in der Weihnachtszeit haben wir seinen Hobby-Keller geräumt.

Unsere drei Jungs haben geholfen, Anjas Neffe mit seinem fünfjährigen Sohn Ole ebenfalls. Und dieser erst fünfjährige Ole hat mich einmal mehr ins Staunen versetzt. Ins Staunen über das Einfühlungsvermögen von Kleinkindern und ihre Möglichkeiten, kreative Lösungen zu finden. Mehr dazu im Folgenden.

Herzliche Grüße, heute von uns beiden aus Jena
Anja Palitza & Olaf Hartke

Thema: Kindlicher Logik auf der Spur – durch Schweigsamkeit

Zitate: „Clean Language ist einfach, denn die Menschen sind komplex genug.“ (David Grove, Begründer des Modells „Clean Language“ („Saubere Sprache“))

„Raum ist, was all das verhindert, was an derselben Stelle geschehen könnte.“ (Arthur C. Clarke)

Beispiel: Wir räumen gerade den Werkzeug- und Hobbykeller von Anjas verstorbenem Vater und machen zeitversetzte Mittagspausen. Mit dem fünfjährigen Ole sitze ich gerade auf der Gartenbank hinter dem Haus und sehe zu, wie er in Abwesenheit äußerer einflussnehmender Kräfte ungestört die letzten Streifen der Tafel Schokolade aus der Verpackung nimmt und sie genüsslich Stück für Stück verspeist. Sein Vater ist noch im Keller aktiv.

Die Schokolade ist aufgegessen; Ole schaut eine ganze Weile nachdenklich auf das nun inhaltlose Papier und ich werde Zeuge von Gedanken, von denen ich nicht genau weiß, ob sie ein Selbstgespräch sind oder zu mir gesprochen werden.

„Jetzt ist sie alle.“ (Pause)

„Papa hat nichts davon abgekriegt.“ (Pause)

„Ich gehe mal in den Keller und zeige ihm das Papier. Dann freut er sich.“

Ich überlege kurz, ob ich meine Befürchtungen bezüglich einer geringen Wahrscheinlichkeit des Auslösens von Freude durch die Strategie des Zeigens des leeren Schokoladen-Papiers mitteile und bevor ich mir selbst Klarheit darüber verschaffen kann, wie ich das einem Fünfjährigen verständlich machen kann, ist er losgeflitzt.

Kurze Zeit später kehrt er zu mir auf die Bank zurück.

„Und?“, frage ich.

„Und was?“, fragt er.

„Und – hat Papa sich gefreut?“

„Nein.“

Was ich nicht zu sagen brauche, das weiß ich: Den Gedanken – in diesem Fall eine Annahme, dass das eigentlich zu erwarten war. Ich schiebe den Gedanken und die Absicht der Äußerung beiseite und antworte in Ermangelung alternativer Ideen erstmal mit einem typisch westfälischen: „Och.“

Und manchmal ist es gut, wenn man wenig spricht. Denn das lässt Sprachräume für andere offen und dann hört man manchmal Dinge, die nicht gesagt werden würden, wenn man selbst immer alles sagt, was es in einem so denkt. Ole spricht nach einer kurzen Pause weiter.

„Ich dachte, er freut sich.“ (Pause)

„Ich habe ihm das Papier gezeigt. Dann hat er das Gefühl, dass er mit dabei war und auch was abgekriegt hat.“

Jetzt fällt mir ein sinnvoller Satz ein: „Aha – Du möchtest, dass alle was abbekommen, wenn man was Leckeres isst?“ (Kindgerechte empathische Vermutung)

„Ja.“

„Ah –  und Du wolltest Papa ein Geschenk machen, deshalb hast Du ihm das Papier gezeigt?“

„Ja.“ (Begleitet von einem Gesichtsausdruck, hinter dem ich den Gedanken vermute, dass das doch völlig logisch ist und er sich wundert, dass ein Erwachsener das fragt.)

Mit betrübtem Gesichtsausdruck schaut Ole wieder auf die leere Verpackung.

„Du – in Deiner Frühstücksbox sehe ich einen Kinderriegel. Vielleicht magst Du ihm davon was abgeben.“, schlage ich ihm vor.

Die kindliche Logik, die von einem hohen Maß an Einfühlungsvermögen zeugt, setzt sich fort:

„Nein.“ (Pause. Und ich bin froh – mir gelingt es wieder, schweigend Blickkontakt zu halten und einen Entfaltungs-Raum für weitere Gedanken zu wahren.)

Und tatsächlich – ich rechne schon fast nicht mehr damit und plötzlich geht es weiter:

„Davon kriegen alle was ab. Dann ist keiner traurig.“

„Die Idee gefällt mir gut. Ich finde es auch Klasse, wenn an alle gedacht wird und alle was bekommen.“

Einige Zeit später – ich räume inzwischen längst wieder im Keller herum – steht der kleine Mann vor mir, reicht mir freudig ein bohnengroßes Stückchen angeschmolzener Kinderschokolode. Ein Riegel, geteilt durch sieben Anwesende. Wer Kinderschokolade kennt, weiß, dass das gar nicht so einfach ist.

Information: Den eigenen Gesprächsanteil gering zu halten, trägt manchmal dazu bei, dass andere Menschen einen kleinen Teil ihrer inneren Komplexität in einen Raum tragen können, den es nicht gegeben hätte, wenn man Gesprächspausen oder sogar die Atempausen des Gesprächspartners fleißig mit eigenen Gedanken füllt.

Ungefüllte Gesprächsphasen erweisen sich somit als potenzielle „Entfaltungs- oder Ausdrucksräume“ für Gedanken, die gerade erst entstehen, während noch geschwiegen wird.

Anja und ich beschäftigen uns in diesem Jahr bei Bettina und Hans-Peter Wellke in Kempten intensiv in einer eigenen Fortbildung mit dem Modell „Clean Language“. Bei der begleitenden Lektüre bin ich unter anderem auf diesen Text von John O‘Keefe gestoßen, der mir in Zusammenhang mit dem obigen Beispiel mit Ole wieder in den Sinn kommt, der mich nachdenklich stimmt und der eine wiederkehrende Frage in mir aufkommen lässt:

Der Raum spielt in unserem gesamten Verhalten eine Rolle.
Wir leben darin
bewegen uns hindurch
erkunden ihn
verteidigen ihn.

Weiter schreibt John O’Keefe, dass es uns leichtfalle, auf Teile davon hinzuweisen: Das Zimmer, der Mantel des Himmels, die Lücke zwischen zwei Fingern oder der Raum, der zurückbleibt, wenn das Klavier endlich fortgeschafft wird.

Vielerorten und in vielerlei Zusammenhängen geben wir dem Raum mehr als eine reine Daseinsberechtigung; wir geben ihm darüber hinaus Bedeutung – manchmal eine immense Bedeutung. Die Frage, die ich mir im Kontext zu einem der obigen Zitate zurzeit manchmal stelle (Raum ist, was all das verhindert, was an derselben Stelle geschehen könnte.), lautet:

„Wenn wir wirklich verstehen wollen – welche Bedeutung sind wir gewohnt, dem Raum im Gespräch zu geben?“

Wochenaufgabe: Prüfen Sie einmal regelmäßig für sich – welche Bedeutung geben Sie ihm, dem „Entfaltungs-Raum“ in einem Gespräch? Wie bedeutungsvoll ist er für Sie? Wann ist er sehr bedeutungsvoll für Sie? Wie machen Sie ihn verfügbar? Wie laden Sie andere ein, ihn zu füllen? Wie gehen Sie mit einer erfolgten Füllung um?


Aktuelles
Seminare 2024/2025
21.06.2024  Wandeltage – Jahreskurs GfK in Präsenz (18 Tage) (1 Platz frei)
29.09.2024  Ein Führungskräftetraining auf Basis GfK am Jadebusen im Kunze-Hof (5 Tage)
06.10.2024  Bildungsurlaub „Einführung GfK“ auf Spiekeroog (5 Tage)
13.10.2024  Bildungsurlaub „Einführung GfK“ auf Baltrum (5 Tage)
26.10.2024  GfK-Einführungsseminar Online (2 Tage)
07.11.2024  Trainer(Innen)-Ausbildung Online (4 Module, 20 Tage, Trainerteam)
04.02.2025  Trainer(Innen)-Ausbildung Präsenz (4 Module, 20 Tage, Trainerteam)
23.03.2025  Bildungsurlaub „Einführung GfK“ auf Baltrum (5 Tage)
12.10.2025  Bildungsurlaub „Einführung GfK“ auf Baltrum (5 Tage)
19.10.2025  Ein Führungskräftetraining auf Basis GfK auf Baltrum (5 Tage)

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