398/2019 Zuhören als die wirkmächtigste Form der Zuwendung

Liebe Leserin, lieber Leser,

wir sind von einer Seminarteilnehmerin auf einen Beitrag im SWR 2 Hörfunk aufmerksam gemacht worden: „Zuhören – eine vergessene Kunst“ von Frank Schüre.

Dieser Beitrag hat uns sehr inspiriert, denn er beschreibt deutlich die Sichtweisen, die wir auch in der Gewaltfreien Kommunikation zum Thema empathisches Zuhören wiederfinden. Unter anderem wird auch auf Carl Rogers Bezug genommen, der ein bedeutsamer Lehrer von Marshall Rosenberg war.

Unter „Aktuelles“ finden Sie den Link zum 27-minütigen Hörbeitrag. Und wenn Sie sich die Zeit nicht dafür nehmen mögen, dann können Sie im Folgenden unsere individuelle Zusammenfassung des Beitrages lesen.

Herzliche Grüße aus Jena und Bielefeld

Anja Palitza & Olaf Hartke

 

Thema: Zuhören als die wirkmächtigste Form der Zuwendung

Zitat: „Das Auge führt den Menschen in die Welt – das Ohr führt die Welt in den Menschen ein.“ (Lorenz Oken)

Beispiel: Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war Zuhören. Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder.

Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig. Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie ihn ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.

Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder und entschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt, und er ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war.

So konnte Momo zuhören!

(aus Michael Ende: »Momo«, Stuttgart 1973)

Information: „Zuhören – eine vergessene Kunst“ ein Radiobeitrag im SWR 2 von Frank Schüre

Wirklich zuhören können scheinbar nur wenige Menschen, auch wenn sich laut einer repräsentativen Umfrage 96% der Menschen für gute Zuhörer halten. Denn umgekehrt – nur wenige Menschen meinen, dass man ihnen wirklich zuhört.

Neurowissenschaftliche Studien der Harvard University haben gezeigt, dass das Sprechen über sich selbst existentiell befriedigt und belebt. Beim Sprechen über sich selbst werden die gleichen Hirnregionen aktiviert, wie bei den Themen Nahrung, Geld und Sexualität. Zuhören ist dagegen harte Arbeit und es ermüdet, aufmerksam zu bleiben und sich am Gelingen des Gesprächs aktiv zu beteiligen.

Doch gelingt uns das Zuhören, dann verändert es uns selbst und das Bild, was wir uns von dem Anderen gemacht haben.

Die Dialogexperten Markus Hauser und Christoph und Hanna Mandl führen in Ihrem Buch „Die schöpferische Besprechung“ folgendes auf: „Um Bedeutsames und Wirkungsvolles zu sagen, muss Raum zum Sprechen sein. Dieser Raum wird durch intensives Zuhören erzeugt und dem Sprecher von den Anwesenden gegeben. Diese Art des Zuhörens geht hinaus über das Übliche, wie sich zuwenden, Blickkontakt halten und nicht unterbrechen.“

Hanna Mandl sieht in einem Glauben an die potentielle Weisheit im Anderen eine ganz bestimmte Haltung mit der es gelingt, wirklich aufmerksam zu lauschen.

Im Buch heißt es auch: „Je aufmerksamer und interessierter der Zuhörer erscheint, um so inspirierter wird das Gegenüber, was die Haltung des Zuhörers bestärkt.“

Kommt der Erzähler mit einem Anliegen oder einem Problem, so kann man sich sicher sein, dass dieser die Antwort selber in sich trägt. Und demnach braucht eine enorme Vorleistung, des Menschen der zuhört und einen Vorschuss gibt, in dem dieser die Annahme vertritt: Ich weiß nicht, was Du sagen wirst aber ich weiß, dass es bedeutsam ist.

Weiter wird im Buch aufgeführt: „Eine Person, der wirklich zugehört wird, erlebt dies nicht nur als hohe Wertschätzung, sondern als Inspiration für schöpferische Gedanken. Für die Zuhörenden eröffnet wahrhaftes Zuhören eine einzigartige Perspektive auf eine größere Realität: Beide erkennen etwas, was sie allein niemals entdeckt hätten.“

Für den Medizin-Ethiker Giovanni Maio bedeutet Zuhören das eigene Ziel zu verlassen und sich wirklich einzulassen. Zuhören bedeutet bereit zu sein, etwas Unvorhergesehenes zuzulassen.

Majo sagte dazu auf einem Kongress: „Das Zuhören ermöglicht eine Distanzierung zu dem Gesehenen. Es ermöglicht einen prüfenden, rasternden Blick. Und wir erkennen eine Gestalt, die wir beziffern können. Hörend sind wir persönlich beteiligt. Lorenz Oken hat es wunderbar ausgedrückt: „Das Auge führt den Menschen in die Welt – das Ohr führt die Welt in den Menschen ein.“ Hören heißt, eine Überraschungsbereitschaft mitzubringen und vor allem, eine solche zulassen wollen.“

Der Sinn im Zuhören liegt für Maio in seinem Potential. Er sagt dazu: „Weil das Zuhören die wirkmächtigste Form der Zuwendung bedeutet, hat das Zuhören das Potenzial, eine Gemeinschaft zu stiften – eine Verständigungsgemeinschaft zu entfalten, durch die wir dem Anderen signalisieren: ich interessiere mich nicht nur für dich, sondern ich gehe in diesem Moment mit dir mit. Allein dadurch, dass ich innerlich bereit bin, dem Anderen Zeit zu geben, indem ich zuhöre und nicht spreche, allein dadurch werte ich den Anderen auf, allein dadurch gebe ich ihm zu verstehen, dass er eine Bedeutung hat. Allein dadurch kann ich ihn sogar heilen, indem ich ihm zuhöre.“

Die Schweizer Psychoanalytikerin Alice Holzhey-Kunz erkennt zwei Arten von Zuhören. Bei der einen Form haben wir ein Ziel und hören die Antworten auf unsere Fragen und bei der anderen Form hört man dem andere zu, in dem was der anderen von sich erzählt. Man folgt dem anderen. Somit geben wir das Heft aus der Hand und auch die Kontrolle.

Carl Rogers schreibt: „Wenn dir jemand zuhört, ohne dich zu verurteilen, ohne zu versuchen, Verantwortung für dich zu übernehmen, ohne zu versuchen, dich zu formen, fühlt es sich sehr gut an.“

Im Radiobeitrag wird folgendes Zitat von ihm aufgegriffen: „Wenn man mir zugehört und mich verstanden hat, dann ist es mir möglich, meine Welt auf neue Weise zu sehen und weiterzumachen. Es ist erstaunlich, wie Dinge, die unlösbar erscheinen, lösbar werden, wenn jemand zuhört; wie sich Verwirrungen, die unentwirrbar scheinen, in relativ glatt fließende Ströme verwandeln, wenn man gehört wird. Ich bin zutiefst dankbar für die Zeiten, da mir dieses einfühlsame, konzentrierte Zuhören zuteilwurde.“

Carl Rogers beschäftigte sich in seinem Leben immer wieder intensiv u.a. mit diesen Fragen: Wie geht es dir? Möchte ich das wirklich hören? Wie geht es mir? Möchte ich das wirklich spüren? Will ich, dass mir jemand so zuhört, dass ich spüre, wie es mir geht?

Wenn wir zuhören, kann es wirklich spannend werden. Wir hören nicht nur zu und konsumieren, sondern wir arbeiten als Zuhörende aktiv mit. Wir treten ein in den Alltag und in die seelische Welt des Zuhörenden.

Eine Gefahr, die in dem tiefen Zuhören liegen kann ist, dass – wenn man genau zuhört – man vielleicht auch spürt, was im eigenen Leben fehlt.

Rogers: „Wenn Sie einen anderen Menschen wirklich verstehen; wenn Sie bereit sind, in seine private Welt einzutreten und wahrzunehmen, was das Leben für ihn bedeutet, ohne dabei zu versuchen, Werturteile zu fällen; dann laufen Sie Gefahr, selbst verändert zu werden. Es könnte sein, dass Sie die Dinge plötzlich auch so sehen; Sie könnten entdecken, dass Sie in Ihren Einstellungen oder in Ihrer Persönlichkeit beeinflusst werden. Dieses Risiko, verändert zu werden, gehört zu den schrecklichsten Vorstellungen, die die meisten von uns sich denken können.“

Wer mit sich selber nicht ruhig und aufmerksam sein kann, der kann sich auch anderen Menschen nicht wirklich zuwenden. Wer versucht, ganz Ohr zu sein, der will etwas entdecken, das sich in Kontakt und Beziehung entfalten möchte.

Matthias Girke ist Onkologe am anthroposophischen Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe und sagt dazu folgendes: „Wenn wir einem Menschen zuhören, dann ist die Voraussetzung zum Hören immer Stille. Wir können nicht ohne Stille hören, wir müssen einen Raum der Stille irgendwo innerlich erzeugen können, um überhaupt hören zu können. Wenn dieser Raum der Stille da ist, dann muss man ein Stückchen einschlafen für seine eigenen Gedanken und Gefühle, und wie welches Länderspiel vielleicht ausgegangen ist. Man muss ein bisschen für sich selbst einschlafen, um diese Schwelle zum anderen Menschen zu überschreiten und für ihn zu erwachen.“

Rogers: „Für mich ist schöpferisches, aktives, sensibles, genaues, einfühlsames, nicht bewertendes Zuhören in einer Beziehung ungeheuer wichtig. Es ist mir wichtig, es zu geben; es ist mir, besonders zu bestimmten Zeiten meines Lebens, äußerst wichtig gewesen, es zu erhalten. Ich habe das Gefühl, innerlich gewachsen zu sein, wenn ich es gegeben habe; ich bin ganz sicher, gewachsen zu sein, erlöst und befreit, wenn man mir auf diese Art zugehört hat.“

Girke: „Aufmerksames Zuhören ist wie der Mutterboden für neue Inspiration. Und wir können dann hören, wenn wir uns richtig gut innerlich um etwas bemühen und dadurch inspirationsfähig werden für das, was an neuer Idee auftauchen kann. Das ist wirklich die beglückendste Erfahrung in der Medizin: Es gibt kaum was Schöneres, wenn man im Gespräch mit einem Patienten auf was Neues kommt, was handlungs- und diagnoseleitend ist, und was der Patient vorher nicht wusste, und der Arzt vorher nicht wusste. Wenn etwas neu entsteht und geboren wird durch eine Kultur von Konzentration, von Aufmerksamkeit, und dieser Offenheit.“

Manche Menschen sehnen sich danach, so zuhören zu können wie Momo aus der Geschichte hier in unserem Beispiel. Dieser Wunsch, meint Hanna Mandl, ist ein Impuls für die Entfaltung eigener Möglichkeiten: „Was ich nicht bewundern kann, kann ich nicht werden. Das hat ja schon was, dass wir Vorbilder brauchen, wenn wir uns entwickeln wollen, Menschen brauchen, auf die wir hinschauen und hinaufschauen. Damit wir in uns entdecken, was wir da sehen und uns da hin entwickeln können.“

 Wochenaufgabe: Sehnen auch Sie sich danach wirklich zuhören zu können? Dann üben Sie diese Woche zu erst einmal sich selber zu lauschen. Nehmen Sie sich ein paar Minuten am Tag Zeit und nehmen Sie alle Gedanken in Ihrem Inneren wahr. Sie brauchen Ihnen nicht Glauben zu schenken, sondern nur die Gedanken kommen zu lassen, urteilsfrei wahrzunehmen und wieder zu verabschieden.

Aktuelles: „Zuhören – eine vergessene Kunst“ ein Radiobeitrag im SWR 2 von Frank Schüre

https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/zuhoeren-eine-vergessene-kunst/-/id=660374/did=23946420/nid=660374/bphv88/index.html

 

Termine im Jahr 2019

http://www.ab-ins-kloster.de

Die Planung unserer Jahresausbildung in 2020 steht fast vollständig und wir möchten unseren Interessenten schon mal die gedankliche Beschäftigung damit ermöglichen:

https://www.erfolgsschritte.de/seminare-trainings/m10_jahresausbildung_gfk.php

21.09.2019 Einführungsseminar Gewaltfreie Kommunikation in Jena – 2 Tage (ausgebucht, Warteliste)

06.10.2019 Bildungsurlaub auf der Nordseeinsel Baltrum (ausgebucht, Warteliste)

13.- 19.10.2019 Familienfreizeit im Schiefergebirge in Lehesten – 7 Tage (Infos sh. Website)

16.11.2019 Vertiefungsseminar Gewaltfreie Kommunikation in Jena – 2 Tage

29.11.2019 Vertiefungsseminar Gewaltfreie Kommunikation in Berlin – 2 ½ Tage (nur noch 3 Plätze)

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