Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,
in der vorletzten Ausgabe schrieben wir über verschiedene „Zeitverständnisse“ und im Anschluss erhielten wir mehrere Mails in denen es in etwa um diese Frage ging:
„Stehen der Hang zu Pünktlichkeit und persönliche Freiheit im Widerspruch zueinander?“
Über diese Frage haben wir uns heute Gedanken gemacht.
Herzliche Grüße aus Jena und Bielefeld
Anja Palitza & Olaf Hartke
Thema: Ist Pünktlichkeit die Einschränkung von persönlicher Freiheit?
Zitat: „Pünktlichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.“ (Deutsches Sprichwort)
„Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort. Dort treffen wir uns.“ (Rumi)
Beispiel: Ein fiktiver Alltags-Dialog:
Person 1: „Wir hatten uns um 18.00 Uhr verabredet und Du kommst mal wieder eine halbe Stunde zu spät. Du bist total unpünktlich.“
Person 2: „Meine Güte, nun sei doch nicht so pingelig. Ich hatte noch was Wichtiges zu erledigen und es ging halt nicht schneller.“
Ein fiktiver Alltags-Dialog auf GFK-Basis:
Person 1: „Wenn ich mich recht erinnere, dann waren wir um 18.00 Uhr verabredet und jetzt ist es 18.30 Uhr. Ich bin frustriert, denn mir ist wichtig, dass man sich pünktlich zusammenfindet. Ich möchte meine Zeit sinnvoll nutzen.“
Person 2: „Ja, wir waren um 18.00 Uhr verabredet. Ich habe noch etwas erledigt, das länger gedauert hat, als ich dachte, dass es dauern wird. Und ich merke, wenn mir etwas sehr wichtig ist, dann ist mir auch eine zeitliche Flexibilität wichtig, denn ich möchte bei wichtigen Dingen nach meinen Prioritäten entscheiden können.“
Information: Die Leserfrage beschäftigt sich mit dem Thema, ob Pünktlichkeit die Einschränkung persönlicher Freiheit bedeutet. Zwei Werte oder Bedürfnisse, die scheinbar im Konflikt miteinander stehen. Auch in unseren Seminaren sprechen sich Teilnehmer immer wieder dafür aus, dass doch unter bestimmten Bedingungen ein bestimmtes Bedürfnis tatsächlich wichtiger und somit vorrangiger zu erfüllen ist, als andere Bedürfnisse.
„Wenn man verabredet ist, dann muss man andere Dinge eben hinten anstellen.“
Menschen, die so etwas wie „Bedürfnis-Konflikte“ oder „objektiv vorrangige Bedürfnisse“ sehen, suchen dann häufig die Zustimmung von anderen, die die Sichtweise teilen. Nach dem Motto: „Wenn (möglichst viele) andere das so sehen wie ich, dann ist doch richtig. Dann stimmt meine Sichtweise und ich habe Recht.“
Willkommen in der Welt von „richtig und falsch“. Neben dem Denk-Konzept, es gäbe in bestimmten Situationen objektiv „richtige“ Bedürfnisse, gibt es ja auch die Möglichkeit der eher subjektiven Bewertung der Bedürfnisse. Und das ist unseres Erachtens die Bewertung, die Marshall Rosenberg meinte, wenn er sagte, dass die einzige Bewertung, die wir nach dem Modell Gewaltfreie Kommunikation vornehmen, die Bewertung sei, ob sich in einem gegenwärtigen Moment gerade Bedürfnisse für uns erfüllen oder nicht erfüllen.
Wenn zwei Menschen um eine bestimmte Uhrzeit verabredet sind und Person 1 ist um die Zeit vor Ort und Person 2 erscheint später, dann hat es eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, dass Person 1 dann bewertet, dass ihr Bedürfnis nach Pünktlichkeit (sinnvolles Verbringen von Zeit) in dem Moment nicht erfüllt wird und Gefühle von Enttäuschung oder Frustration zeigen das vielleicht begleitend an.
Das ist jedoch keine objektiv gültige Ursache-Wirkungskausalität, denn es könnte ja auch sein, dass Person 1 gleichgültig oder erfreut darauf reagiert und die Zeit mit anderen Strategien sinnvoll nutzt. (Dastehen und Menschen beobachten, Schaufensterauslagen sichten, Stille und Ausblick in der Landschaft genießen, jemanden anrufen, Mails checken, SMS schreiben, Hörbuch hören, über Weihnachtsgeschenke nachdenken, liebevolle Gedanken senden, Steptanz üben oder für andere Passanten ein Lied singen… Was auch immer Person 1 als ebenfalls „sinnvolles Verbringen von Zeit“ empfindet/bewertet und sich dafür entscheidet es stattdessen zu tun.)
Und ja – vielleicht bewertet Person 1 in dem Moment ihr Bedürfnis nach Pünktlichkeit (um Zeit sinnvoll verbringen zu können) als nicht erfüllt. Weil sie keine Ideen/Strategien hat, was sie ersatzweise Sinnvolles mit der Zeit anfangen kann. Weil vielleicht gerade Bedürfnisse nach Austausch, Nähe oder Kontakt ebenfalls lebendig sind und es gibt gerade keine andere verfügbare Person dafür.
Insofern ist es immer eine sehr individuelle und situative Bewertung die wir vornehmen, wenn es um die Erfüllung momentaner Bedürfnisse geht. Daher stellt sich für uns die Frage nicht, ob wir in einer Situation gerade ein objektiv „wichtigeres oder bevorrechtigtes“ Bedürfnis haben. Wir haben es einfach.
Genauso wie die Person, die sich entscheidet, später zu kommen, ebenfalls ein Bedürfnis hat und sich erfüllt, indem sie später kommt und uns als Wartende unter Umständen in die Situation eines von unangenehmen Gefühlen begleitenden Momentes von nicht erfüllten Bedürfnissen bringt. Menschen, die später erscheinen als vereinbart erfüllen sich Bedürfnisse, in dem sie sich während der Wartezeit von Person 1 andere Bedürfnisse erfüllen.
Und sie beweisen an der Stelle aus unserer Sicht sehr klar, dass sie in dem Moment bewerten, dass eines ihrer Bedürfnisse für sie gerade lebendiger oder hungriger ist, als ihr Bedürfnis nach Unterstützung von Person 1 oder Zuverlässigkeit gegenüber Person 1 in Bezug auf deren Bedürfnis nach Pünktlichkeit.
„Ja, aber wenn man Zusagen gibt, dann muss man sie auch einhalten. Wo kommen wir denn hin, wenn jeder nur noch dann pünktlich erscheint, wenn es gerade zu den eigenen Bedürfnissen passt.“
Das Bedürfnis nach Zuverlässigkeit (hier im Sinne von „Einhalten von Absprachen, die man für eine gemeinsame Zukunft getroffen hat“) kennen nach unserer Erfahrung auch alle Menschen. Insofern ist es sehr wahrscheinlich, dass man in einem Gespräch mit Person 2 auch Verständnis dafür erhält, wenn man darauf hinweist oder daran erinnert, dass dieser Wert/dieses Bedürfnis für uns als Person 1 in bestimmten Situationen eine große Bedeutung hat.
Und man kann Person 2 je nach eigener Geduld und Bereitschaft mehr oder weniger häufig dazu einladen, dass man versucht, sich dieses Bedürfnis nach Zuverlässigkeit im Kontext des „sich zu vereinbarten Zeiten Treffens“ häufiger, meistens oder vielleicht sogar fast immer gegenseitig erfüllt.
Dann entdeckt man vielleicht, dass „fast immer“ schwierig zu erfüllen ist und man landet bei der Frage, welche Gründe für ein verspätetes Erscheinen objektiv akzeptabel sind und welche schlicht nicht zulässig sind.
Das wäre dann ein weiterer Coaching-Brief…
Zum Abschluss noch ein Gedanke: Für die Erfüllung unserer Bedürfnisse sind wir selbst verantwortlich, nicht andere. Person 1 kann sich jederzeit entscheiden, wie sie damit umgehen möchte, dass es manchmal im Leben Personen vom Typ 2 gibt, mit denen es anstrengend ist, sich auf ein gemeinsames Verständnis zu solchen Fragen zu einigen:
„Ab wieviel Minuten ist man zu spät, wenn man um 18.00 Uhr verabredet ist?“
„Was ist für uns beide ein akzeptabler Grund, zu einer Verabredung später als vereinbart zu erscheinen und wie definieren wir klare Grenzen?“
Irgendwann trifft man dann selbstverantwortlich eigene Entscheidungen, um im Kontakt mit Person 2 sicherzustellen, dass man die eigene Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit sinnvoll verbringen wird, gleichgültig, wie Person 2 sich verhalten wird.
Und mit einem trainierten „GFK-Herz-Muskel“ trifft man diese Entscheidung ohne Urteil über Person 2 und ohne Vorwurf. Dann denkt man: „Ich treffe diese Entscheidung, weil ich mich damit für mein Bedürfnis nach einem sinnvollen Verbringen meiner Zeit entscheide.“ Und man spürt, wenn man an Person 2 denkt, trotzdem noch so etwas wie Toleranz, Verständnis, Akzeptanz, Harmonie oder vielleicht sogar Zuneigung oder Liebe.
Und noch ein Hinweis: In der heutigen Zeit liegt es nahe, sich beim Thema „pünktliches Treffen“ des mobilen Telefons zu bedienen und sich auf einem der zur Verfügung stehenden Kanäle zu informieren und ggfls. neue Absprachen zu treffen. Diese Strategie des Umgangs mit sich ankündigender oder gerade vollziehender Verspätung haben wir bei unserer grundsätzlichen Betrachtung bewusst außen vor gelassen, damit diese Ausgabe ein Coaching-Brief bleibt – und nicht zum Coaching-Buch mutiert. Denn dann lauten die Fragen häufig, wann ein richtiger Zeitpunkt für die Information ist und wann es objektiv bereits zu spät gewesen ist.
Aber vielleicht haben Sie zu diesen Fragen ja nun nach der Lektüre eigene Ideen…
Wir wünschen einen schönen Restsonntag…
PS: Die Eingangsfrage lautete:
„Stehen der Hang zu Pünktlichkeit und persönliche Freiheit im Widerspruch zueinander?“
Vielleicht ist die Frage noch nicht ganz beantwortet und zum Umschreiben reicht die Zeit nicht mehr aus. Ein allerletzter Gedanke noch:
Für uns steht das nicht im Widerspruch zueinander. Wenn wir mal Person 2 sind, dann fragen wir uns, was uns gerade wichtiger ist: Möchten wir uns in dieser Situation unser Bedürfnis nach Zuverlässigkeit und Unterstützung von Person 1 erfüllen (indem wir pünktlich erscheinen) oder entscheiden wir uns, später zu kommen, weil ein anderes Bedürfnis gerade „lauter schreit“?
Und diese Frage will angemessen bedacht und abgewogen sein. Manchmal entscheiden wir uns im Rahmen unserer persönlichen Freiheit dafür, uns um uns oder Dritte zu kümmern und später zu erscheinen, als vereinbart. Und wir tun das mit Empathie und Bedauern gegenüber Person 1, mit großem Verständnis für den gemeinsamen Wert von Zuverlässigkeit und sind offen für ein klärendes, beziehungs- und bedürfnisorientiertes Gespräch mit einer Bereitschaft für neue Vereinbarungen. Die uns dann vermutlich sehr wichtig sind und bei denen wir dann gut überlegen, welche konkreten Gründe für das Wahren einer persönlichen Freiheit gegenüber Person 1 wir beim nächsten „Falle eines Falles“ noch als „angemessen“ bewerten können.
Wochenaufgabe: Üben Sie sich im Umgang mit Menschen, die später erscheinen, als Sie sich verabredet haben oder die Aufgaben später erfüllen, als vereinbart. Verdeutlichen Sie, dass Zuverlässigkeit und das Einhalten von Absprachen für Sie wichtige Werte im Miteinander sind und fragen Sie die Person, wie sie das sieht. Tauschen Sie sich darüber aus, wann für Sie diese Bedürfnisse nicht erfüllt sind und was sie benötigen, damit Sie sie als erfüllt ansehen können.
Aktuelles:
Wir sind wieder bei einem Online-Festival im Januar 2022 dabei:
https://festival-der-verbindungskultur.de/
Seminare
28.01.2022 Einführung in die Gewaltfreie Kommunikation (1,5 Tage)
05.01.2022 Trainerinnenausbildung Gewaltfreie Kommunikation online (4 Module, 20 Tage)
01.03.2022 Trainerinnenausbildung in Präsenz (TTT 41, 4 Module, 20 Tage)
20.03.2022 Bildungsurlaub Einführung GfK Baltrum (Warteliste)
27.03.2022 Bildungsurlaub Einführung GfK Baltrum (5 Tage)
25.02.2022 Schneeschuhwanderung Hohganthütte, Einzelteilnehmende und Paare (4,5 Tage)
02.03.2022 Schneeschuhwanderung Hohganthütte, nur Paare und Paarthemen (4,5 Tage)
28.04.2022 Wandeltage 2022 – Jahresausbildung (WT 3, 6 Module, 18 Tage) (3 Plätze frei)
30.05.2022 Einführung in die GfK Erfurt Jugendberufshilfe Thüringen e.V. (2 Tage)
04.09.2022 Bildungsurlaub GfK und Führung in Dießen am Ammersee (5Tage)
27.11.2022 Bildungsurlaub Einführung GfK Spiekeroog (5 Tage)
Weiteres finden Sie auf unserer Website:
https://erfolgsschritte.de/seminare-trainings/termine.php
Herausgeber:
Hartke Unternehmensentwicklung GmbH
Dunlopstraße 9, 33689 Bielefeld
Fon: 05205 / 7290525 und Fax: 05205 / 7290527
http://www.ab-ins-kloster.de
© Copyright Anja Palitza & Olaf Hartke